D. E. Cowen: Neureligionen und ihre Kulte

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Titel
Neureligionen und ihre Kulte.


Autor(en)
Cowan, Douglas E.; Bromley, David G.
Erschienen
Berlin 2010: Insel Verlag
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Franziska Hupfer, Historisches Institut, ETH Zürich

Alternativ-religiöse Gruppierungen, Sekten, Psychogruppen, spirituelle Kreise, neue religiöse Bewegungen oder Neureligionen? Das Vokabular zur Beschreibung moderner Religiosität ausserhalb der klassischen Glaubensinstitutionen ist variantenreich. Ebenso gibt es unzählige Definitionsversuche: Einige sehen gänzlich davon ab, um eine normative Klassifizierung zu vermeiden, andere nehmen eine ausführliche Definition als Prüfstein, ob eine Gruppe als Religion bezeichnet werden kann. Ohne sich in einer Forschungsvokabular-Debatte zu verlieren, gehen die amerikanischen Religionswissenschaftler Douglas E. Cowan und David G. Bromley der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Neureligionen auf den Grund. Cowan ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Waterloo/ Kanada. Sein Kollege Bromley, Professor für Religionswissenschaft und Religionssoziologie, lehrt an der Virginia Commonwealth University in Richmond/USA.

In einer tendenziell säkularen Gesellschaft kommen Gruppierungen mit ausgeprägter Religiosität grosse Aufmerksamkeit zu und sie werden kontrovers diskutiert. Hoch anzurechnen ist es Bromley und Cowan, dass sie das religiöse Selbstverständnis der Gruppenzugehörigen ernst nehmen. In diesem Sinne plädieren die beiden Autoren für die Verwendung des Begriffs «Neureligionen» und analysieren die porträtierten Gemeinschaften als legitime Glaubensbewegungen. Ihr Religionsbegriff ist sehr weit gefasst und stellt William James’ Konzept der «unsichtbaren Ordnung» ins Zentrum. Ihm zufolge orientiert sich religiöses Leben an einer Ordnungsvision und setzt die harmonische Anpassung daran als Lebensmaxime fest. Insofern sehen die Autoren neue religiöse Bewegungen als Experimente an, eine neue Version der unsichtbaren Ordnung durchzusetzen, wobei sie bei der Umsetzung häufig mit der dominierenden Gesellschaftsordnung in Konflikt geraten. Obwohl die Begrifflichkeiten in einem einleitenden Kapitel von den Autoren sorgfältig reflektiert werden, gelingt es ihnen nicht immer, vollends geeignete Termini zu finden, die nicht bereits mit wertenden Konnotationen beladen sind. So wie der Begriff «Sekte» durch seine negativen Zuschreibungen problematisch ist, schwingt bei «Neureligionen» eine positive Wertschätzung mit. Eine zusätzliche Herausforderung stellt die Übertragung der Begriffe bei der Übersetzung der amerikanischen Originalausgabe (Cults and New Religions, 2008) dar. Die Bedeutungen von englisch «cult» und deutsch «Kult» sind beispielsweise nicht deckungsgleich. Das englische Wort trägt in vielen Fällen die Bedeutung «Sekte», wohingegen das deutsche Wort nicht eine religiöse Gruppe, sondern eine religiöse Praxis bezeichnet.

In ihrem Buch beschreiben Cowan und Bromley acht religiöse Bewegungen der Gegenwart. Aus der grossen Bandbreite ausserinstitutioneller Religiosität hat das Autorenteam folgende Auswahl getroffen: Scientology-Kirche, Transzendentale Meditation, New Age, Moons Vereinigungskirche, die Kinder Gottes, die Branch-Davidianer, Heavens’ Gate und das Hexentum. Die Beispiele sind gut gewählt; einzig schwach institutionalisierte Bewegungen könnten stärker in Betracht gezogen werden, da in der alternativ-religiösen Szene nach einer starken Prägung durch Gruppen in den 1960er Jahren vermehrt punktuelle Glaubensangebote aufgekommen sind. Die Autoren gehen bei den acht Porträts jeweils nach folgendem Schema vor: Sie erklären eingangs die Entstehung der Gemeinschaften, präsentieren eine Biographie der Gründer und betrachten anschliessend Lehre, Praktiken und Organisationsstruktur. Jedes Kapitel schliesst mit der Besprechung einer Kontroverse, welche die Gruppierung in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat.

Bei den ersten beiden Kapiteln stehen die Fragen nach den Selbst- sowie Fremdzuschreibungen im Fokus. Während die Anhänger der Transzendentalen Meditation trotz der religiösen Verwurzelung ihrer Praktik davon absehen, sich als Religion zu definieren, kämpft Scientology um Anerkennung als Religion. Ihr umstrittener Status ist von Land zu Land unterschiedlich und die Einschätzungen reichen von «religiöse oder wohltätige Organisation» in den USA bis zur Klassierung als «verfassungsfeindliche» Gruppierung in Deutschland (38–39). Aus dem Sammelsurium der New Age-Bewegung mit ihren verschiedensten Glaubensformen und Praktiken haben die Autoren ein Beispiel ausserleiblicher Kommunikation herausgepickt (Kapitel 4). Eine Amerikanerin namens JZ Knight fungiert seit 1978 als Medium einer «spirituellen Wesenheit», die sie Ramtha nennt. Im deutschsprachigen Raum wird JZ Knight oft mit der Nachahmerin Julie Ravell, die sich als neues deutschsprachiges Sprachrohr von Ramtha sieht und in deren Gruppe 2005 Kindsmissbrauchsfälle publik wurden, in Verbindung gebracht. Dies findet keine Erwähnung, weil Bromley und Cowan vor allem die amerikanische alternativ-religiöse Szene im Blick haben. Da die Erscheinungsformen von Neureligionen und deren gesellschaftliche Wahrnehmung divergieren, wäre es durchaus interessant, andere Kontinente einzubeziehen.

Das fünfte Kapitel zur Vereinigungskirche, insbesondere die Kritik der Gehirnwäsche-These, erscheint trotz des angenehmen Schreibstils zu langwierig. Interessant sind die kritischen Ausführungen zu dieser bereits vielfach widerlegten These insofern, als dass sie lange Zeit im Zentrum der Erforschung neuer Religionsgemeinschaften stand. Im aktuellen Trend inhaltlicher Dispositionen der Religionswissenschaft liegen die Autoren mit dem Thema Öffentlichkeit. Als gutes Beispiel wählen Cowan und Bromley hierfür die Organisation Kinder Gottes (Kapitel 6), deren Evangelisationsmittel Prostitution, flirty fishing genannt, hohe Wellen schlug. Für weitere polemische Auseinandersetzungen um Neureligionen in der Öffentlichkeit sorgten «Sektendramen» von Gruppen, deren religiöse Überzeugungen zu apokalyptisch motivierter Gewalt gesteigert wurden. Im siebten Kapitel wird die Rolle der Medien bei der Belagerung der Davidianer im Jahr 1993 aufgezeigt. Nach Ansicht der Autoren trug die reisserische Berichterstattung zur Gewalteskalation und anschliessendem Feuertod von über 80 Menschen bei. In den meisten Fällen werden Neureligionen erst wahrgenommen, wenn sich eine Form von Gewalt mit ihnen verbindet. So lebte die Gruppe Heaven’s Gate weit abseits der Öffentlichkeit und wurde erst mit dem Suizid der 39 Mitglieder im Jahr 1997 bekannt. Die Autoren betonen, dass es sich hierbei um Einzelfälle handelt, die jedoch das Schema «Kult-und-Gewalt» für die Wahrnehmung der gesamten neureligiösen Szene festschreiben (210–212). Dass alternativ-religiöse Bewegungen unter Generalverdacht stehen, ihre Mitglieder und die Gesellschaft als Ganzes zu gefährden, bestätigt sich auch im Fall des im neunten Kapitel beschriebenen modernen Hexentums. Trotz ihrer Ethik der Gewaltlosigkeit sind diese Neuheiden mit einer tief verankerten Gefährlichkeitsvorstellung konfrontiert. Warum Diffamierungen die wissenschaftliche Beschäftigung mit alternativer Religiosität erschweren, erklären Bromley und Cowan detailliert und prangern die unbefangene Verwendung des Begriffs «cult» in der amerikanischen Religionssoziologie an. Das Schlusskapitel liest sich als Plädoyer für sachlichere Diskussionen. Es gelingt den Autoren, sich mit Urteilen zurückzuhalten und die Kapitel sehr informativ zu gestalten. Der Schlusssatz mit dem Aufruf, den Beitrag der Neureligionen zur menschlichen Sinnsuche «positiv zu würdigen» (255), mutet jedoch seltsam an und könnte als Vereinnahmung missverstanden werden.

Ist es möglich, mit Porträts von einzelnen Gruppierungen ein Gesamtbild der Neureligionen zu zeichnen? Die Autoren unternehmen keine theoretische Systematisierung alternativer Religiosität und deren Entstehungs-, Verschiebungs- und Erneuerungsprozesse. Viele neue Erkenntnisse bietet das auf drei Hauptpunkte konzentrierte Fazit nicht: Erstens seien die Neureligionen Indikator für religiöse Vitalität trotz Säkularisierung, zweitens Objekt von Diffamierungen und drittens Gradmesser für religiöse Veränderung der Moderne. Als «Brief History» – so der Untertitel der Originalausgabe – richtet sich die Monographie weniger an die eigene wissenschaftliche Zunft, sondern bietet Laien einen Überblick. Die acht Beispiele geben spannende Einblicke in die soziale Organisations struktur von alternativ-religiösen Gemeinschaften. Auf jeden Fall ist die Aufforderung der Autoren zu unterstützen, die religionswissenschaftlichen Analysen nicht auf die Glaubensinhalte zu reduzieren, sondern die Gruppierungen auch immer als gesellschaftliche Laboratorien zu betrachten. Etwas stärker hätten die wechselseitigen Transfers zwischen klassischen Glaubensinstitutionen und Neureligionen betont werden können. Stets auf eine Kontextualisierung bedacht, gelingt es Cowan und Bromley mit ihrem lesenswerten Buch, ein breites Publikum zur Beschäftigung mit den gesellschaftsgeschichtlichen Hintergründen der Wahrnehmung von Neureligionen anzuregen.

Zitierweise:
Franziska Hupfer: Rezension zu: Douglas E. Cowan/David G. Bromley, Neureligionen und ihre Kulte, aus dem Amerikanischen von Claus-Jürgen Thornton, Berlin, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 597-599.

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